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Ausgabe 010

Besuch einer ehemaligen Zwangsarbeiterin

Von Martin Guse, Liebenau



Als Katerina Derewjanko aus Lwiw (Ukraine) sich am 24.05. diesen Jahres von ihren Gastgeber/innen der „Dokumentationsstelle Pulverfabrik Liebenau“ verabschiedete, hatte ihr fünftägiger Besuch in der Samtgemeinde Liebenau und dem Flecken Steyerberg tiefe Eindrücke bei allen Beteiligten hinterlassen. Vor ziemlich genau 55 Jahren hatte Frau Derewjanko das „Ostarbeiterlager“ Steyerberg als freier Mensch verlassen können, nachdem sie in den Jahren 1943 bis 1945 Zwangsarbeit in der Pulverfabrik leisten musste. Zu Beginn des ausführlichen Besuchsprogrammes gedachte sie in Begleitung ihres Bruders Wassilij - der seinerzeit als jugendlicher Zwangsarbeiter aus der Ukraine nach Berlin verschleppt worden war -, ihrer Nichte Tetyana und deren 9-jährigem Sohn Dimitri der Toten der Pulverfabrik Liebenau. Knapp 2000 osteuropäische Zwangsarbeiter sind auf dem Hesterberger Friedhof beigesetzt. Katerina selbst hatte als junge Frau viele dieser Menschen in der Fabrik sterben sehen. Sie erinnerte geradezu vorsichtig an diese Fakten und sprach von den 18 Angehörigen, die ihre Familie nach dem Angriff der deutschen Truppen auf die damalige Sowjetunion verloren hatte. Sie erinnerte auch an die völlig zerstörten deutschen Städte, die sie 1945 bei ihrer Rückkehr in die Heimat sah. Bei entsprechenden Empfängen in den Rathäusern Steyerbergs und Liebenaus betonte sie deshalb die besondere Verantwortung, die die junge Generation für den Erhalt des Friedens habe. Deshalb habe sie den neunjährigen Dmitri mitgebracht, der gemeinsam mit den deutschen Gastgeber/innen Freundschaftsbäume pflanzen wolle.

In mehreren ausführlichen Zeitzeugengesprächen ging Frau Derewjanko bis an die Grenzen ihrer Belastbarkeit. Sie schilderte die völlige Zerstörung ihres Heimatlandes im Verlauf des deutschen Überfalles und berichtete von Einmarsch und Terror der deutschen Truppen. Sie sprach aber auch von der Freundschaft zu einem damals einquartierten deutschen Soldaten, der den Krieg ablehnte. Besonders eindringlich beschrieb sie ihre damalige Entwürdigung in Liebenau/Steyerberg als „Untermensch“, wobei sie die nie vergessenen Worte „Russenschwein“ und „schneller, schneller“ in deutscher Sprache gebrauchte. Sie sprach vom Hungern und Sterben im Dienste der deutschen Kriegswirtschaft und erläuterte die Lebens- und Arbeitsbedingungen in der Pulverfabrik und im Steyerberger „Ostarbeiterlager“. Die Schilderungen dieser schmerzvollen Erinnerungen riefen bei den vorwiegend jugendlichen Gesprächspartnern Katerina Derewjankos besondere Reaktionen hervor. Sie zeigten sich beeindruckt von der Kraft der 73jährigen Frau, die Stätte ihres Leidens noch einmal besuchen zu können, wie die 16-jährige Zarah betonte: „Ich glaube nicht, dass ich selbst den Mut gehabt hätte, mich einer solchen Konfrontation mit diesem Ort zu stellen.“ Die Liebenauer Realschülerin Anna sagte: „Mitfühlen kann man es nur, wenn man es von jemandem hört, der es wirklich erlebt hat.“ Neben Zarah und Anna begleiteten und dokumentierten insgesamt dreizehn 16 bis 21 Jahre alte Jugendliche (acht junge Frauen und fünf junge Männer) aus Berlin sowie Liebenau und der näheren Umgebung den Besuch. Sie fertigen in den nächsten Monaten einen eigenen Videofilm, eine Fotodokumentation bzw. eine Wandzeitung/Ausstellung und wirken bei der Erstellung einer Broschüre mit. Der weiteren Entwicklung dieser nunmehr fest eingerichteten Jugend-Arbeitsgemeinschaft zur Geschichte der Pulverfabrik sehen wir sehr gespannt entgegen. Und zusätzlich gibt es auch noch die Kooperation mit der Sophie-Scholl-Oberschule in Berlin, die in gleicher Weise den Lebensweg von Wassilij Derewjanko dokumentiert.

Mit dem Besuch Katerina Derewjankos bestand erstmals die Möglichkeit, die Aussagen einer ehemaligen Zwangsarbeiterin der Liebenauer Pulverfabrik zu dokumentieren. In den nächsten Wochen und Monaten werden weitere solcher Gespräche mit niederländischen, polnischen und ukrainischen Betroffenen folgen. Wie sich im Verlauf des Besuches durch unterschiedliche Gespräche erwies, sind zunehmend auch Liebenauer und Steyerberger Zeitzeugen bereit, über ihre diesbezüglichen Erinnerungen zur Pulverfabrik zu berichten.

Zur Entwicklung der „Dokumentationsstelle Pulverfabrik Liebenau“ bleibt festzuhalten, dass die Forschungen zur Geschichte der Fabrik mittlerweile vom Land Niedersachsen für die Dauer von zwei Jahren gezielt gefördert werden. In der Dokumentationsstelle, die voraussichtlich in einem Gebäude des ehemaligen Pulverwerkes eingerichtet wird, sollen interessierte Besucher/innen - vor allem die Schüler/innen der unterschiedlichsten Jahrgänge - die Möglichkeit zur Auseinandersetzung mit der Thematik „Nationalsozialismus“ erhalten. Im Anschluss an das Forschungsprojekt werden die gewonnenen Erkenntnisse deshalb unmittelbar für die pädagogische Praxis - d.h. für die schulische und außerschulische Bildungsarbeit - nutzbar gemacht und multimediale Präsentationsformen wie Ausstellungen, Modelle, videotechnische und computergestützte Anwendungen entwickelt. Schwerpunkte der Dokumentationsstelle sollen folgende Themenbereiche sein: Häftlings- und Zwangsarbeit, NS-Wirtschafts- und Rüstungspolitik, „Arbeitserziehungslager“ Liebenau. Eine letzte Bemerkung: Bei der derzeit immer noch äußerst schleppenden und bürokratisch-verzögernden Behandlung der Entschädigungsfrage für ehemalige Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter durch die beteiligten Firmen und die Entscheidungsinstanzen bleibt sehr zu hoffen, dass die betroffenen Menschen überhaupt noch in den „Genuss“ solcher Zahlungen kommen. Wir sind es ihnen schuldig, ihnen bei der Durchsetzung ihrer Ansprüche zu helfen. Für all diejenigen, die sich für die geplante Entschädigungsregelung interessieren oder auf politischem Wege eingreifen wollen, sei auf folgende Internetadresse verwiesen:

www.ns-zwangsarbeiterlohn.de



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