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Ausgabe 009

Notruf - Was ist das?

Von Claudia Eckhardt


Der Notruf des Frauenzentrums entstand 1981 aus der autonomen Frauenbewegung. Das Frauenhaus, mit dem wir oft verwechselt werden, ist eine eigenständige Institution, ein geheimer Zufluchtsort für Frauen mit ihren Kindern, die vor häuslicher Gewalt fliehen müssen. Das Frauenhaus und der Notruf verweisen im Bedarfsfall in ihrer Arbeit auf die jeweils andere Institution, räumlich, personell und vom Schwerpunkt ihrer Arbeit sind es getrennte Arbeitsgebiete. Der Notruf des Frauenzentrums ist Anfang des Jahres 1998 zusammen mit anderen Fraueninitiativen und -projekten (u.a. das Mütterzentrum und die Tagesmütterinitiative) in das FrauenStadthaus (Lange Str. 17) in Nienburg gezogen.

Die Mitarbeiterinnen des Notrufs sind Hausfrau oder erwerbstätig, verheiratet, ledig oder leben in sogenannter wilder Ehe, manche sind Mutter, manche sind heterosexuell und manche lesbisch. Gemeinsam ist uns allen, dass wir uns an den Grundsätzen feministischer Frauen- und Mädchenarbeit orientieren. Wir arbeiten parteilich, unbürokratisch, anonym und bieten Hilfe zur Selbsthilfe an. Einen 24-Stunden-Service kann der Notruf aufgrund von fehlenden Personalstellen nicht anbieten. Es gibt eine halbe Personalstelle, die seit 1987 von der Stadt Nienburg finanziert wird. Diese feste Mitarbeiterin ist zu regelmäßigen Zeiten telefonisch und persönlich erreichbar. Notrufe gibt es mittlerweile in vielen Städten in Deutschland, Wildwasser, Schattenriß, Zartbitter und Notruf sind Namen für Einrichtungen, die sich mit dem Thema (sexuelle) Gewalt auseinandersetzen, beraten und informieren.

Durchschnittlich bekommen wir 10 bis 50 Anrufe und Besuche im Monat – betroffene Frauen und Mädchen, Eltern, Erzieherinnen, PädagogInnen, Lehrkräfte und andere Bezugs- und Vertrauenspersonen. Die Mädchen, die sich bei uns melden, sind in der Regel nicht jünger als 12 Jahre alt. Sofort nach einem Übergriff melden sich kaum Betroffene bei uns. In der Regel warten sie damit einige Tage, Wochen, nicht selten auch Jahre. Betroffene, die sich bei uns melden sind auf vielfältige Weise mit physischer, psychischer und sexueller Gewalt konfrontiert worden. Die angesprochenen Themen bei sexueller Gewalt reichen von ausziehenden Blichen und anzüglichen Bemerkungen auf der Straße, sexuellen Belästigungen am Telefon und pornografischen Bildern am Arbeitsplatz, aufgedrängten Küssen und ungewollten Berührungen bis hin zum gewaltsamen Eindringen in den Körper einer Frau oder eines Mädchens. Wir vermitteln Adressen von geeigneten ÄrztInnen, TherapeutInnen und JuristInnen und begleiten auf Wunsch zu Polizei, Gericht und ÄrztInnen. Darüber hinaus werden Selbsthilfegruppen für Betroffene oder Mütter von betroffenen Kindern.

Zahlen, Zahlen, Zahlen

Schockierend und erschlagend sind zumeist die Zahlen zum Thema sexuelle Gewalt. Wenn sie zum Beispiel auf Elternabenden vorgestellt werden, reichen die Reaktionen von ungläubigem Kopfschütteln bis hin zum blanken Entsetzen. Als Hintergrundwissen für die Notwendigkeit der Notrufarbeit sind die nun folgenden Zahlen wichtig:

Die bundesweite Anzahl von Kindern, die Opfer von sexueller Gewalt wurden, ist schwankend. Nach einer offiziellen Statistik werden 300.000 Kinder jährlich Opfer. Die angenommene Dunkelziffer liegt bei 1 Million. Jede Frau hat in ihrem Leben schon einmal ein Verhalten erlebt, das in die sexuelle Selbstbestimmung, die Entwicklung und Entfaltung der eigenen Sexualität oder in die sexuelle Intimsphäre einer Frau oder eines Kindes eingreift und sich über deren Willen hinwegsetzt bzw. nicht nach deren Willen und Wohlbefinden fragt.

Kinder jeden Alters erfahren sexuelle Gewalt, auch Säuglinge. Der größte Teil der Kinder erfahren diese Gewalt vor Beginn der Pubertät (60%), wenigstens 10% der Opfer sind unter sieben Jahre alt. Die Gewalt geht vor allem von Männern (98%) aus, die Opfer sind überwiegend weiblich (80–90%). Entgegen den Vorurteilen kommen die Männer aus allen Schichten, allen Altersklassen und jeder Nationalität. Gerade 6% der Täter sind Fremde, der überwiegende Teil stammt aus dem Bekannten- und Verwandtenkreis. Und – als wäre diese Tatsache nicht schon erschreckend genug – insgesamt gesehen sind die Täter völlig unauffällig.

Normalerweise haben Bezugs- und Vertrauenspersonen Hemmungen, über ihren Verdacht zu berichten. „Das bilde ich mir alles nur ein“ ist nicht nur eine typische Verdrängungshaltung von betroffenen Kindern, sondern auch von deren Umfeld. Es kann nicht sein, was nicht sein darf.

Bei allem Erschrecken über die Tatsachen darf nicht übersehen werden, daß die Überlebenskraft der Kinder, die Opfer sexueller Gewalt geworden sind, enorm ist. Mit der richtigen Unterstützung lernen sie, das Erlebte zu verarbeiten. Die Tat ist für Kinder wie eine Wunde, die sich, wenn sie nicht behandelt wird, entzündet. Eine behandelte Wunde vernarbt und die Kinder lernen, mit der Vergangenheit zu leben.

Präventionsarbeit

Die Notrufe in Niedersachsen arbeiten in den letzten Jahren auch verstärkt im präventiven Bereich. Mädchen Stärke und Selbstbewußtsein zu vermitteln ist der beste Schutz vor Übergriffen, da bequeme Mädchen bequeme Opfer sind. In Zusammenarbeit mit Eltern, Erzieherinnen, PädagogInnen und Lehrkräften soll (sexueller) Gewalt an Kindern vorgebeugt werden. dieser Personenkreis wird informiert, beraten und findet bei einem Verdacht von sexueller Gewalt Unterstützung. Wir bieten Fortbildungs- und Informationsveranstaltungen an und halten Vorträge in Schulen, Kindergärten, Teams, Arbeitsgruppen und bei Elternabenden.

Wir nehmen an Podiumsdiskussionen teil und organisieren Lesungen, Theaterstücke, Ausstellungen und andere öffentliche Veranstaltungen. Wir stellen Lehr- und Arbeitsmaterialien für die Präventionsarbeit mit Kindern und Jugendlichen vor.

Bei allen Veranstaltungen geht es nicht nur um die Weitervermittlung von Hintergrundinformationen und Zahlen zu Thema (sexuelle) Gewalt, sondern vor allem darum, dem Publikum Materialien und Denkanstöße mit auf den Weg zu geben. Kindern Stärke und Selbstbewußtsein zu vermitteln, kann auf vielfältige Weise geschehen. Erwachsene werden dazu angeregt, über ihr Verhalten gegenüber Kindern nachzudenken und alte Erziehungsmodelle in frage zu stellen.

Nicht die Vergewaltigung und die spektakulären Fälle von Kindesmissbrauch stehen im Vordergrund bei den Gesprächen und Unterrichtsreihen, sondern die Alltagserlebnisse der Kinder und Jugendlichen. Altersgemäss aufbereitetes Spiel-, Arbeits- und Lernmaterial sowie Bilder-, Kinder- und Jugendbücher werden vorgestellt und Erzieherinnen und Lehrkräfte dazu ermuntert, das Thema „Selbstbewußtsein, Selbstbehauptung“ und „Gewalt“ mit den Kindern und Jugendlichen zu bearbeiten. Thematisiert wird dabei auch immer wieder die geschlechtsspezifische Rollenerwartung und -erziehung. Unterrichtseinheiten zu den Themen sexuelle Gewalt, den Umgang mit guten und schlechten Geheimnissen, das erkennen von guten und schlechten Gefühlen, Körpererfahrung und Körperwahrnehmung sowie geschlechtsspezifische Rollenerwartungen können z.B. zum Grundschulalltag gehören. für die älteren Kinder und Jugendlichen werden Songtexte, Romane u.ä. für die verschiedenen Unterrichtsfächer vorgestellt – es sind Unterrichtsmaterialien für jede Schulstufe vorhanden. Eltern, Erzieherinnen, PädagogInnen und Lehrkräfte sind wichtige MultiplikatorInnen für unsere präventive Arbeit.

Darüber hinaus initiieren wir Projekte und helfen bei der Projektentwicklung im präventiven Bereich. Theateraufführungen, z.B. im Rahmen der Figurentheatertage in Nienburg, Lesungen, Podiumsdiskussionen und andere öffentliche Veranstaltungen sollen dazu dienen, das Thema (sexuelle) Gewalt in der Öffentlichkeit präsent zu halten und auf die Notwendigkeit präventiver Arbeit hinzuweisen. Zusätzlich initiieren wir Mädchengruppen und arbeiten mit bereits bestehenden Mädchengruppen (z.B. Mädchen-AG’s aus Schulen) zusammen.

Wen Do

Allein über unsere angebotenen Selbstverteidigungs- und Selbstbehauptungsseminare (Wen Do) hatten über 500 Frauen, Mädchen und deren Eltern in den letzten 4 Jahren mit uns Kontakt. Wen Do Seminare werden ausschließlich von Frauen für Frauen und Mädchen ab dem Kindergartenalter angeboten. Wen Do wurde aus verschiedenen ostasiatischen Kampfsportarten von Frauen in Kanada entwickelt. es werden einfache, aber wirksame Befreiungs- und Abwehrtechniken vermittelt. Im Wen Do kommen keine Fremdwaffen zum Einsatz, der eigene Körper dient als effektive Waffe. Zur Vermittlung dieser Techniken werden Übungen gemacht, die mehr Vertrauen in die eigene Wahrnehmung geben. Dazu gehört das Einschätzen von Gefahrensituationen und die Stärkung der Sicherheit und des Vertrauens in das eigene Gefühl. Durch Rollenspiele entdecken die Teilnehmerinnen individuelle Möglichkeiten, sich gegen Gewalt zu wehren. Ausgangspunkt ist, daß jede Frau und jedes Mädchen das Recht hat, NEIN zu sagen, ihre Grenzen zu setzen und das Recht, daß diese Grenzen respektiert werden. Im Wen Do wird das Bewußtsein für dieses Recht gestärkt. Sprach- und Stimmeinsatz, Körperhaltung u.ä. werden ebenfalls thematisiert. Wichtig ist bei den angebotenen Seminaren, dass die Teilnehmerinnen in Alltagskleidung praxis- und lebensnah erzählen und üben können. Komplizierte Schrittfolgen, Griffe oder spezielle Atemübungen werden dabei nicht verlangt. Einprägsame kurze Handlungsanweisungen machen es möglich, dass sich die Teilnehmerinnen auch nach einigen Jahren noch an viele Bewegungen und Verhaltensweisen erinnern können. Die Rückmeldungen der Teilnehmerinnen fällt, unabhängig von der Altersstufe, durchweg positiv aus. Ein Holzbrett, welches von den Teilnehmerinnen durchgeschlagen oder durchgetreten wird, sorgt bei den meisten noch lange für Gesprächsstoff.

Letzte Meldung:

Ab März gibt es vom Landkreis einen Personalkostenzuschuß für eine weitere halbe Stelle.


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