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Ausgabe 009


Der Schimmelreiter und andere Deichopfergeschichten

von Nicole Blome, Schwarme


„Gott hilf mir! Denn das Wasser gehet mir bis an die Seele

Ich versinke in tiefem Schlamm, da kein Grund ist

Ich bin im tiefen Wasser und die Flut will mich erseufen.“

Psalm 69


Es ist der 25. Dezember des Jahres 1717, als eine große Flut die Menschen Emdens heimsucht. Von einem Orkan aufgeschreckt flüchten sie sich in die oberen Stockwerke ihrer Häuser, um den Wassermassen zu entkommen, die bereits um 2 Uhr nachts durch die Straßen strömen. Man hat erst in den frühen Morgenstunden ein Hochwasser erwartet.

Ein Augenzeuge erinnert sich:

„Noch immer glaube ich das Brüllen der Wogen, das Krachen der einstürzenden Häuser, Böden und Dächer zu hören, das herzzerreißende Geschrei und Gejammer, der kläglich in den Fluten versinkenden Menschen, das Winseln zarter Weiber und Kinder, die hier unter herabstürzenden Balken zerschmettert, dort auf ihrem Bett im Wasser ersticken oder durch die schäumenden Wogen hin und her geschleudert halb nackend auf den Wellen treiben und zuletzt größtenteils in den Fluten umkommen, während nur wenige nach langem Umhertreiben sicheren Boden erreichen.“ (Herrmann, 1936, S. 58)

Boote sind noch nach drei Tagen nötig, um die Straßen zu befahren und allein in Eiderstedt werden über 8500 Tote gezählt. In Mariensiel, Friesland, hat die Sturmflut Deichschäden hinterlassen, bei deren Ausbesserung man ein Kind eingegraben haben soll, so die Überlieferung. (Vergl.: Freund, 1984, S. 29)

Küstensagen tragen oft das Motiv eines solchen Deichopfers in sich, welches weit in heidnische Zeiten zurückreicht, und eine Sonderform des Bauopfers darstellt. (Vergl.: Freund, 1984, S. 29) Hinter diesen Opferformen steht die Vorstellung, die Vitalkraft des eingemauerten Lebewesens, sei es Mensch oder Tier, übertrage sich auf das Bauwerk, mache es uneinnehmbar oder unverwüstlich und beschütze die Menschen von Katastrophen. Diese magischen Vorstellungen verweisen nicht ausschließlich auf vorchristliche Zeiten, sie überlebten neben den christlich magischen und volksüberlieferten Intentionen bis in die Neuzeit. Oft gehen Glaube und Überlieferung ineinander über. (Petzold, 1989, S. 169)

Besonders intensiv ist diese Vermischung in den nordischen Küstenregionen. Thomas Mann beschreibt diese Sphären als „spät und oberflächlich christianisiert“, „ mit den Wurzeln zäh und brauchtreu im Ur-Heidnischen“. (Mann,1948,S.52)

Damit führt er uns die heimatlichen Gefilde Theodor Storms vor Augen. Storm, der das Meer überwiegend als unheilvolle Bedrohung erlebt, als schicksalhafte Macht, die aus unerklärlichem Drang das, was der Mensch sich geschaffen hat, zu zerstören trachtet, nimmt in seiner Novelle Der Schimmelreiter das Motiv des Deichopfers auf.

Hierin berichtet Elke Haien eine Kindheitserinnerung. Sie spricht zu ihrem Mann, dem Deichgrafen Hauke Haien, über die Knechte, die der Meinung waren, solle ein Deich halten, „‘müsse was Lebiges da hinein geworfen und mit verdämmt werden; bei einem Deichbau auf der andern Seite, vor wohl hundert Jahren, sei ein Zigeunerkind verdämmet worden, das sie um schweres Geld der Mutter abgekauft hätten(...)’ “ (Storm, 1894, S. 104)

Was Elke hier erzählt, gehörte noch im 19. Jahrhundert an der friesischen Küste zum festen Repertoire des Aberglaubens. Hauke selbst wird unmittelbar damit konfrontiert, als er einen Hund rettet, den man im Deich vergraben will. Als er zu wissen verlangt, wer den Hund hinabgeworfen habe, „ da trat von einem Fuhrwerk ein stiernackiger Kerl vor ihn hin. ‘Ich tat es nicht, Deichgraf,(...) aber der es that, hat recht gethan; soll Euer Deich sich halten, so muß was Lebiges hinein!’ - ‘Was Lebiges? Aus welchem Katechismus hast Du das gelernt?’ ‘Aus keinem, Herr!’(...) ‘Das haben unsere Großväter schon gewußt, die sich mit Euch im Christenthum wohl messen durften! Ein Kind ist besser noch; wenn das nicht da ist, thut’s auch wohl ein Hund!’ ‘ Schweig’ Du mit Deinen Heidenlehren!’ schrie ihn Hauke an; ‘es stopfte besser , wenn man Dich hineinwürfe.’ “ (Storm, 1894, S. 151ff)

Gegen alten, herrschenden Götterglauben versucht Hauke, die Naturgewalten durch technisch - naturwissenschaftliche Erkenntnisse zu besiegen. Doch die Urgewalten fordern ihren Tribut. Der ihnen versagte kleine Hund und des Deichgrafen Frau mitsamt dem Kinde sterben in den Fluten eines Bruches im Deich, der sie schützen sollte. Am Ende opfert Hauke sich selbst, um noch mehr Übel abzuwenden, mit den Worten: „ ‘Herr Gott, nimm mich; verschon’ die Andern!’ “ (Storm, 1894, S. 202f) Dieser Widerspruch macht die Tragik des Helden der Stormschen Erzählung aus.

Eine der früheren Deichopfergeschichten stammt aus Nordfriesland. 1436, beim Bau des Wiedingharder Deiches soll das Kind der Hertje von Horsbüll, einer Seherin, lebendig begraben worden sein. (Muuß , Nordfriesische Sagen, zitiert nach Freund, 1984, S. 29)


„ Es geht um des Strandes Harden ein starker güldener Ring,

Ihr kooget und ihr deichet, wo weiland der Schiffskiel ging -

Aber wehe über die Marschen, weh über Sand und Strand -

Es weinet da unter dem Deiche, der Ring hat nicht Bestand!

Sie sagen, die Deiche feste unschuldigen Blutes Macht -

Mein Knabe spielte im Kooge, er kam nicht heim zur Nacht!

Sie sagen, es sind die Möwen, die Möwen schreien im Wind -

Aber ich weiß, da unten weint Hertje von Horsbülls Kind!“

(Lulu v. Strauß und Torney , Balladen und Lieder, Leipzig, 1902, S. 3-4, zitiert nach Freund, 1984, S. 30)


Diese Sage verrät, daß der Knabe zufällig beim Spielen von den Bauherren entdeckt und entführt wurde. Die Deichopfersagen berichten auch über Käufe von unehelichen Kindern, denen einer Witwe, oder einer Zigeunerin. „ Nun legte man ein Weißbrot auf das Ende eines Brettes und schob dieses so über das Loch, daß es bis in die Mitte reichte. Da nun das Kind hungrig darauf entlang lief und nach dem Brote griff, schlug das Brett über und das Kind sank unter.“ (Müllenhoff, 1976, S. 259, Nr.386)

Mit dieser List brachte man das Kind dazu „freiwillig“ in das Loch hinabzuspringen, was die Beteiligten von ihrer Schuld befreihte. Auch der Deichgraf opfert sich selbst.

Wie lange sich der Glauben an solche Wunderkräfte der „kleinen“ Deichopfer erhalten hat, zeigen die abschließenden Beispiele. 1813 ist bei Eisgang der Deich an der Elbe gebrochen und man konnte ihn nur mit Mühe wiederherstellen. Selbst zu dieser fortgeschrittenen Zeit tritt in alter Mann zu dem Wasserbauinspektor mit den Worten: ‘Den Deich kriegen sie nicht anders in Ordnung , sie müssen ein unschuldiges Kind mit darin vergraben.’ (Bechstein, 1835/38, zitiert nach Daumer, 1923, S. 43)

Dr. Kurt Klusemann schreibt in seiner Studie über das Bauopfer :„Herr Professor Franz Ferk (Graz) teilte mir aus seinen Jugenderinnerungen (...) mit, daß ihn die Maurer bei dem Baue seines Vaterhauses (...), als er noch ein Junge war, ergriffen, nackt ausgezogen auf eine nichtvollendete Mauerbank gelegt, Mörtel und Ziegel auf und um ihn geschichtet und ihm dann bedeutet hätten, daß sie ihn einmauern wollten.“ (Klusemann,1919, S. 6)

Aus der Betroffenenperspektive wird der Schrecken erst bewußt, auch wenn sie ihn am Ende laufen lassen, die Maurer hätten ihr Werk vollenden können, dazu fehlten vielleicht nur einige Steine. So hoffen wir doch, daß in den überlieferten Bau- und Deichopfersagen ebenfalls im letzten Moment das Gewissen größer war, als die Angst vor einer drohenden Katastrophe und eine rettende Hand in das Loch hinabreichte.

Bibliographie

Boll, Dr. Karl, Die Weltanschauung Theodor Storms, 1. Aufl., Berlin, Junker und Dünnhaupt Verlag, 1940

Daumer, G. Fr., Geheimnisse des christlichen Altertums, Wissenschaftliche Bibliothek des proletarischen Freidenkertums Bd. IX, 1. Aufl., Dresden, Verlagsanstalt für proletarische Freidenker, 1923

Freund, Winfried, Theodor Storm, Der Schimmelreiter - Glanz und Elend des Bürgers , 1. Aufl., Paderborn; München; Wien; Zürich, Schöningh, 1984

Herrmann, Dr. Albert, Katastrophen, Naturgewalten und Menschenschicksale , 1. Aufl., Berlin, Schönfelds Verlagsbuchhandlung, 1936

Klusemann, Dr. Kurt, Das Bauopfer, Eine ethnographisch- prähistorisch- linguistische Studie, 1. Aufl., Graz- Hamburg, Selbstverlag, 1919

Mann, Thomas, Adel des Geistes, daraus: Theodor Storm (1930), 6.-10 Aufl., Stockholm, Bermann - Fischer Verlag A.B., 1948

Müllenhoff, Karl, Sagen, Märchen und Lieder aus Schleswig, Holstein und Lauenburg, 1. Aufl., Schleswig, Julius Bergas Verlag und Druckerei, 1921 (N. Ausg., Mensing, Hildesheim, Georg Olms Verlag 1976)

Petzoldt, Leander (Hrsg.), Deutsche Volkssagen, München, C.H. Bech’sche Verlagsbuchhandlung, 1978 ( 2. überarb. Aufl. )

Petzoldt, Leander, Dämonenfurcht und Gottvertrauen - Zur Geschichte und Erforschung unserer Volkssagen, 1. Aufl., Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1989

Storm, Theodor, Der Schimmelreiter , 3. Aufl., Berlin, Verlag von Gebrüder Paetel, 1894

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