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Ausgabe 008

Erich Frieds Großmutter,
der jüdische Friedhof in Liebenau
und einige andere Fragen über die Zeit.

Großmutter


Beim ersten und zweiten Mal

wenn du niesen mußtest

sagtest du „Helf Gott!“ zu dir

beim dritten Mal nur noch „Zerspring!“


Unsinn sagtest du

wenn du deine Hoffnung meintest

und Tanz statt Liebe

und elende Laune statt Trauer


Wie du

deinen Tod genannt hast

im Lager

das weiß ich nicht


Das nebenstehende Gedicht stammt von Erich Fried, 1921 in Wien geboren. 1938 stirbt sein Vater an den Folgen eines Trittes in den Magen durch einen Gestapobeamten, seine Großmutter wird 1943 in Auschwitz umgebracht. Seine Mutter nimmt Fried mit in die Emigration nach London, wohin er 1939 übersiedelt und 1988 stirbt. Seine Kindheit ist eine zwischen dem I. und II. Weltkrieg. In der Schule treffen ihn erste antisemitische Äußerungen – er ist Jude.

Genau in dieser Zeit, in den zwanziger Jahren werden die letzten Juden auf einem Friedhof am Ortsausgang von Liebenau begraben. Frieds Lebenslauf läßt sich rekonstruieren. Als einer der meistgelesenen Dichter unserer Zeit hat man Interesse an seinem Leben.

Über das Leben der auf dem Liebenauer Friedhof Begrabenen gibt es wenig zu erfahren. Ihre Nachfahren wurden bis auf zwei Familien von allen in Stolzenau und Umgebung lebenden Juden in Konzentrationslager deportiert. Die Gräber auf dem Liebenauer Friedhof bezeugen, dass die Zeit hier mit der letzen Beerdigung Mitte der zwanziger Jahre stehenblieb.

Und so geht es mir heute, wenn ich diesen Friedhof betrete: ich tauche ein in diese stehengebliebene Zeit, überlege, ob die Menschen, die hier begraben sind, schon unter der in Stolzenau früh einsetzenden antisemitischen Hetzjagd gelitten haben, frage mich nach der Bedeutung der hebräischen Schriftzeichen auf den Grabsteinen, die ich nicht entschlüsseln kann. Dieses eingekapselte Stück Zeitgeschichte erzeugt bei mir Gewißheit und Ungewißheit zugleich. Gewißheit darüber , dass in dieser Gegend wirklich Juden gelebt haben, mit ihren Bestattungsritualen haben sie diesen Ort gestaltet, und er ist noch da. Auch wenn es ihnen verboten war, Land für ihre Friedhöfe innerhalb der Dörfer, in denen sie wohnten, zu erwerben. Sie sind vor die Tore des Dorfes gezogen, um ihre Toten zu bestatten. Wüßte ich nicht, dass die Angehörigen der hier Bestatteten deportiert, umgebracht und höchstens in Massengräbern verscharrt wurden – gerade hier an diesem eigenartigen Ort der Stille, könnte ich für einen Moment den Holocaust vergessen. Eine kurze innere Ruhe erfaßt mich. Außerhalb der Friedhofsmauern braust der Verkehr.

Ich weiß, dass die Nachfahren der hier Begrabenen ihre Reise ins Ungewisse antreten mußten, ich weiß, dass nur wenige überlebt haben. Ich lebe hier, es ist hier passiert. - Aber wie ihr euren Tod genannt habt im Lager, das weiß ich nicht.

Heute finde ich kleine Kieselsteine auf den Grabsteinen, viele, es müssen also Besucher hier gewesen sein. Gabriele Caspers vom Verein zur Erhaltung des Scheunenviertels „Vor dem Pennigsehler Tor“ hat versucht, darauf hinzuweisen, dass es diesen Friedhof am Ortsausgang gibt. Es sind viele gekommen. Einige gehören zum Chor „Liedschlag“, der später die jiddischen Lieder seines Repertoires an der alten Scheune singen wird. Marlies Fraling und Edgar Lieser sind da, ihre Fotografien, in zwei Ausstellungen in der Liebenauer Scheune zu sehen, geben Zeugnis über ihren Blick auf diesen Ort.

Was hat sie hierher gebracht? Haben Sie dieselben Fragen, die ich mir gestellt habe? Suchen sie wie ich nach Spuren, um zu verstehen, was geschah, als die meisten von uns noch gar nicht lebten? Oder nach einem Hinweis zum Verstehen für die Verbrechen an den Juden? Oder sind sie hier, neugierig auf diesen Ort hinter Backsteinmauern, den sie noch nie vorher betreten haben?

Wir können nur in die Zeit fragen, was geschah, Antworten bekommen wir nicht. Können uns Bildern und Texten bedienen, wenigen Zeitzeugen zuhören. Analysen und Meinungen versuchen. Bruchstücke, die ein lückenhaftes Bild ergeben. Für mich bleibt die Unfaßbarkeit des Geschehenen immer bestehen.

Wer wollte, konnte im Anschluß an den gemeinsamen Besuch in der Abenddämmerung den Klängen der jiddische Stücke des Chores lauschen oder dem plattdeutschen Vortrag von Claus Koloff. Er erzählte eine Anekdote vom jüdischen Viehhändler aus Liebenau. Konnte später von ihm erfahren, dass die Liebenauer nicht sagen mögen, wo in ihrem Dorf die jüdische Synagoge stand. Haben Sie Angst, dass herauskommt, wer das Stück Land, auf dem sie stand, heute besitzt? Was haben die Schüler und Schülerinnen der Liebenauer Realschule gedacht, als die BesucherInnen ihre von ihnen zubereiteten Spezialitäten aus der jüdischen Küche verspeisten? Fühlte sich der Hospizverein hier am rechten Ort?

Ein ähnliches aber bedrohlicheres Gefühl wie auf dem Friedhof beschlich mich während der gelungenen Tanzperformance von Ulrike Wallis. Zur vom Klezmer inspirierten Musik von Farkas hob sie Steine auf, trug sie hinter ihrem Kopf auf der Bühne herum, legte sie an anderer Stelle wieder ab. An einer Stelle wirkte sie sehr beladen. Wie diese Zeit, von der wir nie wissen werden, wie sie wirklich war.

Manchmal möchte ich mir den Umgang mit dieser Zeit leichter machen, wie es mir an diesem Tag gelungen ist– und auf Spurensuche gehen.
(les.ah, photos: sahel)

„Worte bleiben
Gefühle

Gedanken

Wissen und Angst

Zorn bleibt und Widerstand

und keine Ruhe

Und Wünsche bleiben

auch einfache Wünsche für Menschen

(für sehr nahe und unbekannte)

und Hoffnungen auf eine Zukunft


Einiges bleibt

nach dem eigenen Bleiben

Die ganze Welt soll bleiben –


Oder bleibt nichts?



Das Gedicht „Großmutter“ aus dem Jahr 1984, die Daten aus dem Leben Frieds und der Gedichtauszug aus „Was bleibt“- von Fried kurz vor seinem Tod verfaßt- sind dem Buch Erich Fried, Eine Chronik, Leben und Werk: Das biografische Lesebuch, erschienen bei Wagenbach 1998 und für 17,80 DM erhältlich, entnommen.

Der Besuch des jüdischen Friedhofs und das von mir beschriebene Rahmenprogramm dazu fand am 12.09.99 während der Kulturwochen 1999 statt.

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