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Ausgabe 006


Ein junger Kurde im Spannungsfeld zwischen Türkei und deutschen Behörden


Eberhard Sievers

Vorsitzender des Kirchenvorstandes Loccum


Abdul Aziz Barut wuchs in einem kleinen kurdischen Dorf auf, das mitten in die politisch-militärischen Auseinandersetzungen zwischen Kurden und Türken geriet. Zwei ältere Brüder faßten Fuß in Deutschland. Als auch der Vater das Dorf verlassen mußte, weil es für ihn zu gefährlich wurde, flog Abdul Aziz als Zwölfjähriger zu seinen Brüdern nach Deutschland. In der Familie des einen Bruders, der in Loccum wohnt und ein Obst- und Gemüsegeschäft betreibt, wurde er aufgenommen und versorgt. Der Bruder wurde sein Vormund. Abdul Aziz lernte deutsch und besuchte die Hauptschule in Loccum. Jedoch wurde sein Antrag auf Asyl in Deutschland abgelehnt: Er war kein Kind, das seinen Eltern nachfolgte. Er war nicht direkt ein politisch Verfolgter. Er war kein Flüchtling aus einem direkt bekannten Kriegsgebiet.

Abdul Aziz Familie gab den Kampf nicht auf, stellte weitere Anträge und wandte sich an Anwälte. Es gelang aber nicht, die verhängnisvolle Feststellung aus seinen Akten wegzukriegen: "Abschiebungshindernisse sind nicht bekannt". Immerhin war durch die lange Verfahrensweise Zeit gewonnen worden, die seinem Einleben in Deutschland zugute kam. Im Herbst 1998 stimmte der Bruder gegenüber der Ausländerbehörde schließlich zu, Abdul Aziz freiwillig wieder in die Türkei zurückkehren zu lassen. Immer noch in der Hoffnung, daß sein Aufenthalt in Deutschland legalisiert werden könnte, flog Abdul Aziz jedoch nicht in die Türkei zurück, sondern tauchte mit unbekanntem Aufenthaltsort bei Bekannten in Deutschland unter. Wieder war nichts entschieden, sondern nur Zeit gewonnen worden.

In dieser Zeit wandte sich die Familie an kirchliche Stellen in Loccum und im Kirchenkreis Stolzenau-Loccum um Hilfe. Für uns stellte sich die Situation so dar, daß der junge Mann sich in Loccum eingelebt hatte und bekannt war, daß er zwar ein mittelmäßiger Schüler, aber völlig unbescholten war, daß er die deutsche Sprache beherrschte, in einer intakten Familie versorgt war und einen Beruf erlernen wollte.

Andererseits würde ihn in der Türkei ein ungewisses Schicksal erwarten: Bei einer Rückkehr in sein Dorf würde er als 17jähriger sogleich von der PKK erfaßt und zur militärischen Ausbildung gezwungen werden. Oder er würde von der anderen Seite, dem türkischen Militär, eingezogen und gegen seine Landsleute, die Kurden, eingesetzt.

Darum setzten nun in Loccum eine Anzahl kirchlicher Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter alles Mögliche in Bewegung, um seinen Aufenthalt in Deutschland legalisiert zu bekommen, um weitere Zeit zu gewinnen oder - wenn alles nichts nützt - um wenigstens wieder die Genehmigung zu einer freiwilligen Rückkehr in die Türkei zu erhalten. Als Abgeschobener ist seine Wiedereinreise nach Deutschland ausgeschlossen. Als freiwillig Reisender wäre sie nach längerer Zeit wieder möglich. Es ging in diesem Fall also nicht um Kirchenasyl. Wir wußten nicht, wo Abdul Aziz sich aufhielt. Sondern es ging um "Gemeindeschutz", um die Vertretung seiner humanitären Interessen vor deutschen Behörden mit Hilfe der evangelisch-lutherischen Gemeinde.

Aber alle diese Bemühungen scheiterten. Als Abdul Aziz einmal kurz vor Weihnachten zu seiner Familie kam, wurde er festgenommen und in Abschiebehaft nach Hameln gebracht. Wir versuchten bis zum letzten Augenblick, die zuständige Ausländerbehörde beim Landkreis Nienburg zum Einlenken zu bewegen. Aber am 5. Januar 1999 wurde Abdul Aziz Barut unter Polizeigeleit ins Flugzeug nach Istanbul gesetzt.

Der Fall Abdul Aziz Barut mutet wie ein undurchdringliches Gestrüpp im Dschungel deutscher Behörden und Gerichte an. Es gab unglückliche Umstände, verpaßte Chancen, Mißverständnisse, Ungeschicklichkeiten, Versäumnisse, Fehlinterpretationen, usw. Auch die Familie machte Fehler. Was in allem bedauerlicherweise zu kurz geriet, war die Humanität, das menschliche Schicksal eines unbescholtenen jungen Mannes, der hier integriert war und friedlich leben wollte.



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